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Montag, 29. Juni 2015

Von oben herab

„Wissen Sie schon, wer hier wohnt? Haben Sie die Zeugen befragt? Dies ist eine Frauenleiche. Wo ist ihre Handtasche? Wir brauchen einen Ausweis, oder eine Aussage, um zu wissen, wer da vor uns liegt. Haben Sie das denn nicht im Studium gelernt? Hop, hop! De Tach is nich an Stoke bunnen!, wie meine Großmutter zu sagen pflegte. Sprechen Sie Plattdeutsch oder soll ich es Ihnen übersetzen?“
Ich stelle befriedigt fest, dass Alima unruhig wird und sich suchend im Raum umblickt. Sie fühlt sich sichtlich unwohl und entsprechend gepresst antwortet sie: „Nein, aber ich lerne es, wenn Sie es wollen. Die Haushälterin, Frau Raue, sitzt in der Küche. Ich habe Ihr einen Tee aufgegossen. Sie hat zu mir gesagt, die Tote sei eindeutig Frau Schönau, ihre Chefin. Die Handtasche der Toten habe ich noch nicht entdeckt. Soll ich sie suchen?“
Ich nicke ihr zu: „Aber fix!“
Da spüre ich mehr, als ich es tatsächlich gehört hätte, dass jemand in der offenen Haustür steht. Das wird wohl endlich der Pathologe sein. Ich drehe mich um und ranze ihn an, weil ich so schön in Fahrt bin: „Na endlich! Das wurde aber auch Zeit, dass Sie kommen!“
Doch die letzten Worte wollen mir schier im Hals stecken bleiben. In der Tür steht nicht der alte Herr Lieblich, sondern ein blond gelockter Adonis in strahlend weißem Kittel über der Jeans und dem weißen Shirt. Seine grünen Augen leuchten mich mit einer Intensität an, dass mir ganz mulmig zumute wird. Er mustert mich unverhohlen, mit einer Enttäuschung in den Augen, die ich nicht verstehe. Doch es gibt mir ein wenig meiner Sicherheit zurück und ich fahre ihn schroff an: „Sie sind nicht Herr Lieblich, sondern sein Nachfolger, nehme ich an?“
Er nickt mir zu und stellt sich, ohne seinen Blick zu senken, vor: „Ich bin Gabriel Xander Witthold und Sie haben Recht, Frau Herzog, ich bin der Nachfolger von Doktor Lieblich. Bis zum Antritt seiner Rente im nächsten Monat möchte Doktor Lieblich nicht mehr zu Tatorten fahren. Sie werden mit mir arbeiten müssen, Frau Herzog.“
Ich bin nicht wirklich abgeneigt. Der Junge sieht gut aus, er ist noch keine dreißig Jahre alt und hält sich sichtlich mit Sport fit. Ich nicke ihm zu: „Na dann mal los. Wollen wir uns mal umsehen.“
Gabriel tritt herein und ich überlasse ihm meinen Platz an der Seite der Leiche. Alima kommt zu mir und gesteht: „Ich habe die Handtasche noch nicht gefunden. Soll ich die Haushälterin danach fragen?“
Ich nicke ihr zu, sie geht in den linken Flügel des Hauses. Jetzt habe ich endlich die Ruhe, mich im Raum umzuschauen. Doch bevor ich tatsächlich dazu komme, spricht mich Gabriel an: „Frau Herzog, ich konnte nicht umhin, Ihren Umgang mit Ihrer Praktikantin zu verfolgen. Haben Sie sich schon einmal darüber Gedanken gemacht, dass jede negative Energie, Ihre herablassende, geradezu verletzende Art, Frau List zu behandeln zu Ihnen zurückkommt?“
„Machen Sie sich nicht lächerlich. Ich will von Ihnen Fakten über die Todesursache der Hausherrin, kein Gewäsch über so etwas nebulöses wie Energie. Jetzt würde ich gerne den Tatort untersuchen, wenn Sie nichts dagegen haben, dass ich meine Arbeit mache?“
Ich habe die letzten Worte mit Absicht wie Säure klingen lassen. Der Tag ist wirklich nicht an den Stock gebunden, wie meine Großmutter immer zu sagen pflegte. Aber Gabriel lacht daraufhin schallend, als hätte ich einen guten Witz gerissen und sagt dann noch außer Atem: „Ich habe, bevor ich bei den Pathologen gelandet bin, einen Abstecher in die Psychologie gemacht. Da hätte ich mir diese Aussage von so mach einem Kollegen sehnlichst gewünscht!“
Ich drehe mich schon weg, weil ich meine, endlich meinen Job machen zu dürfen. Doch Gabriel hat augenscheinlich einen Narren an mir gefressen. Er lässt einfach nicht von dem Thema ab. Sehr sanft und ein wenig traurig spricht er weiter: „Ich kenne Sie von früher. Sie waren nicht immer so zynisch. Sie müssen es jetzt doch auch nicht sein. Es macht Ihnen das Leben nur unnötig schwer! Wenn ich so wie hier vor einer Frau stehe, die ihren Tot gewaltsam gefunden hat, frage ich mich immer, wie sie gewesen war, ob sie tatsächlich verdient hat, was mit ihr geschah. Meist ist das nicht der Fall. Würden Sie wollen, dass Ihnen jemand den Tod wünscht, weil Sie es verdienen?“
Ich erschrecke vor seinen Worten. Ich gebe es nur vor dir, liebe Leserin, lieber Leser, zu, doch er trifft meine schlimmste geheime Befürchtung: dass ich nicht nur äußerlich hässlich bin, sondern mein ganzes Wesen wirklich nicht liebenswert ist!
Ich spüre, dass ich hier an einem ganz wichtigen Punkt in meinem Leben stehe. Jetzt brauche ich wirklich deine Hilfe! Soll ich:
mich nun öffnen und dem Arzt weiter zuhören, der augenscheinlich weiß, wovon er redet?