„Wissen
Sie schon, wer hier wohnt? Haben Sie die Zeugen befragt? Dies ist
eine Frauenleiche. Wo ist ihre Handtasche? Wir brauchen einen
Ausweis, oder eine Aussage, um zu wissen, wer da vor uns liegt. Haben
Sie das denn nicht im Studium gelernt? Hop, hop! De Tach is nich an
Stoke bunnen!, wie meine Großmutter zu sagen pflegte. Sprechen Sie
Plattdeutsch oder soll ich es Ihnen übersetzen?“
Ich
stelle befriedigt fest, dass Alima unruhig wird und sich suchend im
Raum umblickt. Sie fühlt sich sichtlich unwohl und entsprechend
gepresst antwortet sie: „Nein, aber ich lerne es, wenn Sie es
wollen. Die Haushälterin, Frau Raue, sitzt in der Küche. Ich habe
Ihr einen Tee aufgegossen. Sie hat zu mir gesagt, die Tote sei
eindeutig Frau Schönau, ihre Chefin. Die Handtasche der Toten habe
ich noch nicht entdeckt. Soll ich sie suchen?“
Ich
nicke ihr zu: „Aber fix!“
Da spüre
ich mehr, als ich es tatsächlich gehört hätte, dass jemand in der
offenen Haustür steht. Das wird wohl endlich der Pathologe sein. Ich
drehe mich um und ranze ihn an, weil ich so schön in Fahrt bin: „Na
endlich! Das wurde aber auch Zeit, dass Sie kommen!“
Doch die
letzten Worte wollen mir schier im Hals stecken bleiben. In der Tür
steht nicht der alte Herr Lieblich, sondern ein blond gelockter
Adonis in strahlend weißem Kittel über der Jeans und dem weißen Shirt.
Seine grünen Augen leuchten mich mit einer Intensität an, dass mir
ganz mulmig zumute wird. Er mustert mich unverhohlen, mit einer
Enttäuschung in den Augen, die ich nicht verstehe. Doch es gibt mir
ein wenig meiner Sicherheit zurück und ich fahre ihn schroff an:
„Sie sind nicht Herr Lieblich, sondern sein Nachfolger, nehme ich
an?“
Er nickt
mir zu und stellt sich, ohne seinen Blick zu senken, vor: „Ich bin
Gabriel Xander Witthold und Sie haben Recht, Frau Herzog, ich bin der
Nachfolger von Doktor Lieblich. Bis zum Antritt seiner Rente im
nächsten Monat möchte Doktor Lieblich nicht mehr zu Tatorten
fahren. Sie werden mit mir arbeiten müssen, Frau Herzog.“
Ich bin
nicht wirklich abgeneigt. Der Junge sieht gut aus, er ist noch keine
dreißig Jahre alt und hält sich sichtlich mit Sport fit. Ich nicke ihm zu:
„Na dann mal los. Wollen wir uns mal umsehen.“
Gabriel
tritt herein und ich überlasse ihm meinen Platz an der Seite der
Leiche. Alima kommt zu mir und gesteht: „Ich habe die Handtasche
noch nicht gefunden. Soll ich die Haushälterin danach fragen?“
Ich
nicke ihr zu, sie geht in den linken Flügel des Hauses. Jetzt habe
ich endlich die Ruhe, mich im Raum umzuschauen. Doch bevor ich
tatsächlich dazu komme, spricht mich Gabriel an: „Frau Herzog, ich
konnte nicht umhin, Ihren Umgang mit Ihrer Praktikantin zu verfolgen.
Haben Sie sich schon einmal darüber Gedanken gemacht, dass jede
negative Energie, Ihre herablassende, geradezu verletzende Art, Frau
List zu behandeln zu Ihnen zurückkommt?“
„Machen
Sie sich nicht lächerlich. Ich will von Ihnen Fakten über die
Todesursache der Hausherrin, kein Gewäsch über so etwas nebulöses
wie Energie. Jetzt würde ich gerne den Tatort untersuchen, wenn Sie
nichts dagegen haben, dass ich meine Arbeit mache?“
Ich habe
die letzten Worte mit Absicht wie Säure klingen lassen. Der Tag ist
wirklich nicht an den Stock gebunden, wie meine Großmutter immer zu
sagen pflegte. Aber Gabriel lacht daraufhin schallend, als hätte ich
einen guten Witz gerissen und sagt dann noch außer Atem: „Ich
habe, bevor ich bei den Pathologen gelandet bin, einen Abstecher in
die Psychologie gemacht. Da hätte ich mir diese Aussage von so mach
einem Kollegen sehnlichst gewünscht!“
Ich
drehe mich schon weg, weil ich meine, endlich meinen Job machen zu
dürfen. Doch Gabriel hat augenscheinlich einen Narren an mir
gefressen. Er lässt einfach nicht von dem Thema ab. Sehr sanft und
ein wenig traurig spricht er weiter: „Ich kenne Sie von früher.
Sie waren nicht immer so zynisch. Sie müssen es jetzt doch auch
nicht sein. Es macht Ihnen das Leben nur unnötig schwer! Wenn ich so
wie hier vor einer Frau stehe, die ihren Tot gewaltsam gefunden hat,
frage ich mich immer, wie sie gewesen war, ob sie tatsächlich
verdient hat, was mit ihr geschah. Meist ist das nicht der Fall.
Würden Sie wollen, dass Ihnen jemand den Tod wünscht, weil Sie es
verdienen?“
Ich
erschrecke vor seinen Worten. Ich gebe es nur vor dir, liebe Leserin, lieber Leser,
zu, doch er trifft meine schlimmste geheime Befürchtung: dass ich
nicht nur äußerlich hässlich bin, sondern mein ganzes Wesen
wirklich nicht liebenswert ist!
Ich
spüre, dass ich hier an einem ganz wichtigen Punkt in meinem Leben
stehe. Jetzt brauche ich wirklich deine Hilfe! Soll ich:
mich nun
öffnen und dem Arzt weiter zuhören, der augenscheinlich weiß,
wovon er redet?
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